20Apr
Von: Bettina Wüst An: 20. April 2020 In: Allgemein, Mentoren Comments: 0
Foto Andrea Müller © Nicki Schäfer/blende11-Fotografen

1. Frau Müller, Sie sind Programmleiterin für den Bereich Unterhaltung im Piper Verlag. Wie schätzen Sie aktuell den Markt ein? Gibt es Genres, die besonders gesucht sind und solche, die es schwer haben?

Der Buchmarkt durchläuft sicherlich keine ganz leichte Zeit: Die Zahl der Leser sinkt, die Konkurrenz zwischen dem Buch und anderen Medien (z. B. Serien, aber auch Games) um die Freizeit des potentiellen Lesers nimmt eher zu, die alltäglichen Berührungspunkte mit Büchern (in Zeitungen, Zeitschriften, im Gespräch mit Freunden oder Kollegen etc.) werden weniger.

Doch als leidenschaftlicher Büchermacher kann man natürlich gar nicht anders, als die positiven Dinge dagegen zu halten: Nach wie vor gelingt es in jedem Jahr, Debütanten nach ganz vorne, sprich auf die Bestsellerliste zu bringen, nach wie vor schaffen es immer wieder neue, ungewöhnliche Stoffe, Leser zu begeistern, selbst Trendthemen/-genres, die schon lange am Markt sind, werden vom Leser weiter goutiert und geben auch neuen AutorInnen die Chance auf erfolgreiche Publikation.

Was die Suchparameter anbelangt: Außergewöhnliche Stoffe, die das gewisse Etwas mitbringen, sind naturgemäß selten. Dafür gibt es immer Bedarf, dafür gibt es aber auch kein Rezept, dem Autoren folgen könnten. Solche Manuskripte sind und bleiben ein Glücksfall!

Familiensagas über mehrere Generationen, Frauenschicksale, Romanbiographien & Spannung liegen im Trend

Sieht man sich die Unterhaltungsstoffe auf den aktuellen Bestsellerlisten an, so bleiben (nicht nur, aber vorwiegend deutsche) Familiensagas über mehrere Generationen (19./1. Hälfte 20. Jahrhundert) im Trend. Frauenschicksale/Frauenemanzipationsgeschichten, realhistorische wie fiktive, stoßen auf hohes Interesse, im schon genannten Zeitraum, aber auch darüber hinaus im 20. Jahrhundert. Die Romanbiographie – sehr lange quasi gar nicht am Markt präsent – erlebt gerade ein erfreuliches Hoch. In diesen Segmenten kaufen aktuell alle Publikumsverlage weiter ein. Klassische historische Romane dagegen haben es zurzeit im Print sehr schwer, aber das Interesse an weiter zurückliegenden Epochen wird sicherlich früher oder später zurückkehren.

Spannung ist und bleibt eines der größten Segmente am Mark mit einer Bandbreite von cosy bis blutig. Aktuell suchen fast alle Verlage nach dem nächsten großen Trend, wirklich absehbar ist er momentan noch nicht. Dabei ist das Angebot an Spannung, vorwiegend als Serie, immer hoch, aber nur wenige Manuskripte haben das gewisse Etwas, das als echtes Verkaufsargument fungieren kann. Gesucht (und nur selten angeboten) werden Near-Future-Thriller sowie harte Spannungsstoffe (sei es als Reihe oder Solitär).

Von allen Verlagen forciert werden aktuell (New-Adult-)Romances; anfangs ein rein mit Übersetzungen aus dem Amerikanischen bestücktes Genre, mittlerweile von deutschen Autorinnen sehr erfolgreich bespielt. Hier gibt es schon relativ viele angebotene Manuskripte – aber qualitativ wäre da noch Luft nach oben!

2. Nach welchen Kriterien bestücken Sie Ihr Programm? Und was ist für Sie ein zuverlässiges Signal: Dieser Roman ist eine Trüffel, keine Nebelkappe?

Ein Unterhaltungsprogramm, wie mein Team und ich es betreuen, muss alle gängigen Genres abdecken, damit Leser wie Buchhändler bei uns finden, was gefragt und beliebt ist. Für die Abmischung ist sowohl der Inhalt relevant (wie viel Spannung und mit welchem „Härtegrad“, wie viel historische Romane mit welchen Settings und Themen, wie viel Romance etc.) als auch zum Beispiel die Herkunft der Bücher (wie viele deutsche Autoren, wie viele Übersetzungen und aus welchen Sprachen). Gleichzeitig müssen wir abwägen, wie viel inhaltlich Neues wir präsentieren können, um überraschend und spannend zu bleiben. Wir fragen uns: Welches neue Subgenre könnte in 1 – 2 Jahren (so lange ist der übliche Vorlauf in einem Print-Programm) Trendpotential haben, welche Themen/Stoffe werden LeserInnen dann ansprechen, wie entwickeln sich vorhandene Trends und wie könnten wir Vorhandenes drehen?

Neue Subgenres & Trendpotential

Ein nicht zu unterschätzender begrenzender Faktor bei der Programmarbeit ist, so profan das klingt, die Programmgröße, die vorgegeben ist und – mit Blick auf den Trend der letzten Jahre – eher geringer wird denn größer. Unser Rechtevorrat muss groß genug sein, um bei einem Vorlauf von 1 ½ – 2 Jahren sicher planen zu können, selbst wenn z. B. ein Spitzentitel ausfällt, weil das Manuskript nicht rechtzeitig fertig wird. Der Vorrat darf aber auch nicht zu groß werden, sowohl mit Blick auf die dadurch erfolgte Kapitalbindung, als auch um uns, programmatisch gesehen, Möglichkeiten offen zu halten, auf Veränderungen am Markt zu reagieren oder neu eingekaufte Projekte, die uns alle begeistern, noch ins Programm aufnehmen zu können.

Bei der Prüfung eines Projekts sind die oben genannten Anforderungen, die sich aus dem Rechtevorrat und den Markterfordernissen ergeben, ein Bewertungsmaßstab.
Das aber alles reicht nicht, wenn ein Stoff mich nicht begeistern kann. Zu einem guten Teil ist Lektorenentscheidung immer auch Bauchgefühl. Was – sofern man die Zeit hat, diesen Maßstab anzulegen – hilfreich sein kann: nach der Prüfung das Manuskript für einige Tage beiseitelegen. Bleibt der Text dann im Gedächtnis (obwohl man in der Zwischenzeit weitere Bücher prüft, oftmals sogar aus demselben Genrebereich), kann man sich an die Figuren erinnern, weil sie runde Charaktere, kann man sich an Details erinnern, die neu, besonders waren, dann ist das ein Hinweis auf eine „Trüffel“.

3. Teilen Sie die Beobachtung, dass ambivalente oder gebrochene Figuren mit umfassender Backstory eine immer grössere Rolle spielen (sowohl was Romane als auch Filme/Serien betreffen)? Falls ja, was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?

War das je anders? Man sagt ja nicht zu Unrecht, dass glückliche Menschen, denen es rundum gut geht, keinen Stoff für Romane hergeben, denn jede Romanstory, unerheblich in welchem Genre, lebt vom Konflikt und zieht die Spannung aus den Widerständen, denen der Held/die Heldin ausgesetzt ist.
Dass die Backstory der Protagonisten immer wichtiger wird, geht auf das zurück, was ich den „Netflix-Effekt“ nenne: Es wird – über alle Genres hinweg – immer stärker in Mini-Serien oder Reihen gedacht. Und um Figuren über mehrere Bände interessant zu halten und glaubhaft weiterentwickeln zu können, muss man ihnen von Anfang an mehr Tiefgang, mehr Brüche, mehr „Baggage“ einschreiben.

4. Sprache und Stil sind Aspekte, die wir in der Montségur Akademie besonders betrachten. Hier geht es um den Erzähler, Perspektive, Tempus, Vokabular, Rhythmus und vieles mehr. Wie hoch sind diese Anforderung Ihrer Ansicht nach in den verschiedenen Bereichen der Literatur oder auch bei den verschiedenen Lesergruppen?

Sicherlich lädt die oben schon beschriebene aktuelle Tendenz zum seriellen Schreiben mit entsprechend enger Taktung der Einzelbücher zu einer Beschleunigung des Lesens bei, was dazu führen kann, dass Leser weniger Augenmerk auf die handwerklichen Elemente wie zum Beispiel Perspektive, Tempus, Vokabular, Rhythmus legen. Doch wenn ein Manuskript in diesen Punkten gravierende Mängel aufweist, merken Leser es dennoch. In Rezensionen zu Unterhaltungsromanen ist dann gerne davon die Rede, dass der Lesefluss unterbrochen wurde, dass der Text holprig wirkt und nicht flüssig lesbar ist.

5. Was war Ihr persönliches Lesehighlight im vergangenen Jahr und wieso hat es Sie begeistert?

Wenn die eigentlich wunderbare Arbeit als Lektorin/Programmleiterin einen Haken hat, dann den, dass man zum persönlichen Lesen eigentlich nicht mehr kommt. Aber manchmal hat man Glück und eines der Bücher, die man für das Verlagsprogramm liest, ist zugleich ein persönliches Lesehighlight.
Das trifft zu auf Michaela Kastels SO DUNKEL DER WALD, ein Psychothriller, den ich als Lizenztitel geprüft habe, und der – sehr selten bei Prüfstoffen! – mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. SO DUNKEL DER WALD ist dunkle psychologische Spannung, und zeigt einerseits wie sich die Spirale der Gewalt von Generation zu Generation fortsetzt, und andererseits die emotionale Zerstörung der Entführungsopfer, um die es hier geht. Das ist beklemmend, sehr eindringlich, auch durch die starke sprachliche Gestaltung, und mit einem starken Lesesog!